txt redaktion & agentur für Bertelsmann-Verlag Auszüge

Paradiesische Aussichten
Jenseitsversprechen der Religionen
Die wahren Paradiese sind die Paradiese, die wir verloren
haben, schreibt Marcel Proust in seinem Hauptwerk »Auf der
Suche nach der verlorenen Zeit«. Nur die Erinnerung sei in der Lage,
sie wiederzufinden und die Empfindungen, die sie einst auslösten,
zum Leben zu erwecken. Das ist Literatur. Auch viele Religionen
kennen Paradiese, doch die liegen meist in der Zukunft, jenseits
des irdischen Daseins. Zu ihren Verheißungen zählen Frieden und
Gerechtigkeit, das Ende von Entfremdung und Schmerz, Flüsse aus
Milch, Wein und Honig, Zaubergärten voller Lust, Freude und Glückseligkeit,
Begegnung mit dem Höchsten, ein Wiedersehen mit den
Liebsten oder ein Einswerden mit dem Sein oder dem Nichts...

...Die Utopie vom Ende der Wiedergeburten
Zyklische und lineare Weltbilder unterscheiden sich in den Vorstellungen
von Leben und Tod – und damit auch in ihren Hoffnungen
auf Erlösung. Die einen kennen nur ein irdisches Leben; an
dessen Ende wird abgerechnet und entschieden, wer den Himmel
und wer die Hölle bewohnt. Anders im Hinduismus und im Buddhismus,
wo das Leben eine Reise ist, eine Folge von Geburt und
Wiedergeburt, wo Erlösung Auflösung ist, Verlöschen, Eins werden
mit dem Kosmos. Auch hier gibt es Paradiese, von denen das
Große Westliche Paradies des Buddha Amithãba, genannt »Sukhãvita
«, das »Reine Land«, besonders verführerisch beschrieben
wird. Götter und Menschen leben dort durch Mitgefühl verbunden
unter Juwelenbäumen, zwischen Gold und Edelsteinen, umgeben
von Lotusblüten, aus denen Millionen goldener Buddhas wachsen,
in einer Welt aus Wohlgerüchen und Klang. Meditationspraxis,
Übungen und Rezitationen verhelfen denen, die wollen, nach ihrem
Tod dort hineingeboren zu werden.
Der historische Buddha Siddhartha Gautama, der um das Jahr
560 v. Chr., möglicherweise auch etwas später geboren wurde, hat
der Überlieferung zufolge die Beschäftigung mit dem Jenseits als
unnütz abgetan. Das letzte Ziel im Kreislauf der Wiedergeburten,
das höchste Glück, ist das Nirvana. Es jenseitige Welt zu nennen,
hieße bereits, sich in Dichotomien zu bewegen, die darin aufgehoben
sind. Es ist das Ende der Wiedergeburten, deren Ziel es ist,
durch Taten gutes Karma zu mehren, das Ende des Lebens und des
Todes, der Gefühle, der Sehnsüchte und des Leids.
Das indische Epos Mahabharata, das zum Kern der hinduistischen
Überlieferung zählt, siedelt das glückliche Jenseits, den Ort
des Nicht-Todes, nördlich des Himalayas an. Es ist frei von Begierde
und Bosheit, voller Friede und Freude. Dort werden diejenigen
wiedergeboren, die im Diesseits Gutes getan haben. Jede Wohnung
dort ist ein Palast. Dieses nördliche Reich ist nur eines von vielen
Paradiesen der Hindus, deren Götterwelt reich besiedelt ist und
vielfältige Jenseitsvorstellungen birgt.

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Gnade Gottes – oder verdienter Lohn?
Das Wort »Paradies« ist dem persischen Wort »Pardes« entlehnt
und bezeichnet einen Garten, einen umgrenzten Raum, der nicht
jedem offen steht. Das Christentum kennt es als Ort und Zustand,
dessen der Mensch durch seine Verführbarkeit und seinen Verstoß
gegen Gottes Gebot verlustig ging. Mit dem Sündenfall kamen
Erbsünde und Erlösungsbedürftigkeit in die Welt. Kant hat
die Vertreibung aus dem Paradies dagegen als Überwindung des
Primats der Natur über die Erkenntnis gedeutet, mithin als Fortschritt;
dorthin zurück zu wollen wäre Regression. Das Paradies
des Neuen Testaments ist ein Übergangsort der Gläubigen, wie
die Hölle der Ort der Gottlosen ist. Dort warten die Verstorbenen
auf das Weltgericht. Ewige Verdammnis droht ihnen oder
Auferstehung und ewiges Leben in der Nähe Gottes: »Ich bin die
Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, der wird leben,
ob er gleich stürbe«, heißt es im Johannesevangelium im Neuen
Testament. In manchen Überlieferungen gelangen die Menschen
durch Gnade ins Paradies, in anderen ist es Lohn für ein gottgefälliges
Leben. Mit Blick auf die indische Religionsgeschichte
schreibt Michael von Brück, dass die Akzente einmal mehr auf der
»Selbstanstrengung« des Menschen liegen, einmal mehr auf der
»Hinwendung Gottes zum Menschen«, und gleiches gelte auch für
die Geschichte des Christentums......

 

 

 

 

 

 

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